Zusammenfassung des Urteils AVI 2009/85: Versicherungsgericht
Der Beschwerdeführer, ein Herrencoiffeur, beantragte Taggelder zur Förderung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, wurde jedoch vom RAV Sargans abgelehnt. Der Beschwerdeführer legte Einspruch ein, der ebenfalls abgelehnt wurde. Daraufhin reichte er Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ein. Der Beschwerdegegner argumentierte, dass der Beschwerdeführer nicht über ausreichende Sprach- und Geschäftsführungskenntnisse verfüge. Trotz Unterstützung durch einen Buchhalter wurde die Beschwerde abgewiesen, da die notwendigen Kenntnisse nicht nachgewiesen wurden. Der Beschwerdeführer konnte nicht nachweisen, dass er die erforderlichen Geschäftsführungskenntnisse besitzt, und somit wurde die Beschwerde abgelehnt.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | AVI 2009/85 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | AVI - Arbeitslosenversicherung |
Datum: | 04.05.2010 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 71b Abs. 1 lit. d AVIG; Art. 95b Abs. 1 lit. b AVIV. Die Ausrichtung besonderer Taggelder setzt angemessene Geschäftsführungskenntnisse der anspruchstellenden Person voraus. Fehlende Kenntnisse in der Geschäftsführung lassen sich nicht durch diejenigen Dritter, bspw. eines Treuhandunternehmens, substituieren (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. Mai 2010, AVI 2009/85). |
Schlagwörter: | ändig; Erwerbstätigkeit; Geschäftsführung; Person; Arbeit; Kenntnisse; Beschwerdegegner; Geschäftsführungskenntnisse; Taggelder; Gesuch; Coiffeur; Arbeitslosenversicherung; Bestätigung; Treuhandunternehmen; Schweiz; Treuhandunternehmens; Sargans; Herrencoiffeur; Verfügung; Coiffeursalon; Planung; Drittperson; Gallen; Förderung |
Rechtsnorm: | Art. 109 AVIG; |
Referenz BGE: | 121 V 65; |
Kommentar: | - |
Entscheid vom 4. Mai 2010
in Sachen
R. ,
Beschwerdeführer,
gegen
RAV Sargans, Langgrabenweg, Postfach, 7320 Sargans,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Amt für Arbeit, Unterstrasse 22, 9001 St. Gallen, betreffend
Förderung selbstständiger Erwerbstätigkeit
Sachverhalt:
A.
R. , Jahrgang 1981, absolvierte von 1996 bis 1999 in A. eine Lehre als Herrencoiffeur. Nach Abschluss der Lehre arbeitete er als Coiffeur und stellvertretender Geschäftsführer im ehemaligen Lehrbetrieb weiter, bis er am 5. März 2003 in die Schweiz einreiste (act. G 3.1/C4). In der Schweiz arbeitete der Versicherte vorerst als Küchenhilfe bei B. , anschliessend als Verpacker bei der C. und der D. (act.
G 3.1/B8). Die Anstellung bei der D. kündigte er noch während der Probezeit per 12. Juni 2008 (act. G 3.1/C20, 22).
Am 16. März 2009 meldete sich der Versicherte zur Arbeitsvermittlung und zum
Leistungsbezug bei der Arbeitslosenversicherung an (act. G 3.1/C1, B4). Vom
17. August 2009 bis 6. November 2009 absolvierte der Versicherte im Rahmen einer arbeitsmarktlichen Massnahme einen Alphabetisierungskurs (act. G 3.1/C48). Am 7. August 2009 beantragte er Taggelder während der Planungsphase zur Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit als Herrencoiffeur. Die Planungsphase sollte von
1. September 2009 bis 31. Oktober 2009 andauern und die selbstständige Erwerbstätigkeit per 2. November 2009 aufgenommen werden (act. G 3.1/B23). Das Gesuch wurde dem Versicherten am 20. August 2009 vom Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Ergänzung zurückgesendet, hatte es der Versicherte doch unterlassen, einen Budgetplan für die ersten drei Geschäftsjahre zu erstellen und das Gesuch zu datieren und zu unterschreiben. Zudem forderte das RAV den Versicherten unter Hinweis auf seine fehlenden Geschäftsführungskenntnisse auf, die Bestätigung eines Treuhandunternehmens einer dazu geeigneten Person beizubringen, die sich bereit erkläre, ihn in administrativen Belangen zu unterstützen (act. G 3.1/B26). Am 21. August 2009 reichte der Versicherte ein Grobkonzept (act.
G 3.1/B27), am 26. August 2009 das ergänzte Formular, zusammen mit dem
geforderten Budgetplan ein, nicht jedoch die geforderte Bestätigung.
Mit Verfügung vom 4. September 2009 lehnte das RAV Sargans das Gesuch des Versicherten ab. Zur Begründung führte es an, dass der Versicherte nicht über die notwendigen Geschäftsführungskenntnisse verfüge und zufolge ungenügender
Sprachkompetenzen auch nicht in der Lage sei, die entsprechenden Kenntnisse im Rahmen eines Jungunternehmer-Seminars zu erlernen. Bei der Prüfung des Grobprojektes bzw. Budgetplans sei zudem festgestellt worden, dass die wirtschaftliche Tragfähigkeit der geplanten selbstständigen Erwerbstätigkeit äusserst fragwürdig sei (act. G 3.1/B32).
B.
Gegen die Verfügung des RAV vom 4. September 2009 liess der Versicherte durch seine Ehefrau am 10. September 2009 Einsprache erheben. Sie stellte sich auf den Standpunkt, dass mangelnde Deutschkenntnisse keinen ausreichenden Grund darstellten, um dem Ehemann die Eröffnung des Coiffeursalons zu verweigern. Zudem besuche er zurzeit einen Deutschkurs, den er fortsetzen werde (act. G 3.1/B33).
Mit Entscheid vom 21. September 2009 bestätigte das RAV die ablehnende Verfügung. Die Begründung entspricht derjenigen in der Verfügung (act. G 3.1/B35).
C.
Gegen den Einspracheentscheid des RAV Sargans vom 21. September 2009 richtet sich die von R. am 29. September 2009 (Datum Postaufgabe) ans Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen erhobene Beschwerde. Darin beantragt der Beschwerdeführer sinngemäss die Aufhebung des Einspracheentscheides und die Zusprache von Taggeldern zur Förderung der selbstständigen Erwerbstätigkeit. Zur Begründung führt er an, im Rahmen seiner Tätigkeit als Herrencoiffeur und stellvertretender Geschäftsführer in A. gewisse Kenntnisse in der Geschäftsführung erworben zu haben. Zudem habe er einen Buchhalter beauftragt, um die administrativen Dinge mit Versicherungen und Steuerbehörden für ihn zu erledigen. In
Anbetracht der Tatsache, dass es sich beim Zielpublikum des geplanten Coiffeursalons um Männer mit Migrationshintergrund handle, stünden auch seine geringen Deutschkenntnisse einer selbstständigen Erwerbstätigkeit als Herrencoiffeur nicht im Weg. Schliesslich sei er mit den im Rahmen des Alphabetisierungskurses erworbenen Deutschkenntnissen durchaus auch in der Lage, deutschsprachige Kunden zu bedienen (act. G 1).
Mit Beschwerdeantwort vom 30. Oktober 2009 beantragt der Beschwerdegegner die Abweisung der Beschwerde. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zwar über die notwendigen fachlichen Fertigkeiten zur Führung eines Coiffeurgeschäftes, nicht aber über die dafür notwendigen Sprach- und Geschäftsführungskenntnisse verfüge. Indem der Beschwerdeführer es trotz Aufforderung unterlassen habe, die Bestätigung eines Treuhandunternehmens einer Person beizubringen, die ihn in administrativer Hinsicht bei der Geschäftsführung unterstützen würde, habe er den Nachweis genügender Geschäftskenntnisse nicht erbracht. Die blosse Behauptung des Beschwerdeführers, er werde einen Buchhalter damit beauftragen, die Arbeiten mit Versicherungen und Steuerbehörden für ihn zu erledigen, genüge nicht. Darüberhinaus habe der Beschwerdeführer bereits über einen Geschäftsraum und das notwendige Inventar für den Coiffeursalon verfügt. Da eine Planung somit nicht mehr notwendig gewesen sei, hätte das Gesuch auch bereits aus diesem Grund abgelehnt werden müssen (act. G 3).
Mit Replik vom 20. November 2009 legt der Beschwerdeführer eine Bestätigung von E. ins Recht, worin ihm diese ihre Unterstützung in allen mit der selbstständigen Tätigkeit zusammenhängenden administrativen Angelegenheiten zusichert (act. G 5,
G 5.1).
Der Beschwerdegegner verzichtet auf die Einreichung einer Duplik (act. G 7).
Erwägungen:
1.
Die Arbeitslosenversicherung kann versicherten Personen, die eine dauernde selbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, durch die Ausrichtung von höchstens 90 Taggeldern während der Planungsphase eines Projektes unterstützen (Art. 71a Abs. 1 des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [AVIG; SR 837.0]). Die kantonale Amtsstelle prüft die Anspruchsvoraussetzungen, unterzieht das Gesuch einer formellen und einer summarischen materiellen Prüfung, entscheidet innert vier Wochen nach Eingang des Gesuchs, ob Taggelder ausgerichtet werden, und setzt deren Anzahl fest (Art. 95b
Abs. 2 und 3 der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die
Insolvenzentschädigung [AVIV; SR 837.02]).
Der Beschwerdegegner kommt zum Schluss, der Beschwerdeführer verfüge nicht über die notwendigen Sprach- und Geschäftsführungskenntnisse, um die in der Schweiz bei der Unternehmensführung zu beachtenden administrativen und rechtlichen Regelungen einhalten zu können. Diese Auffassung ist im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer noch von Mitte August 2009 bis anfangs November 2009 einen Alphabetisierungskurs besuchte, lediglich über Grundkenntnisse in der deutschen Sprache verfügt, bislang noch nie eine selbstständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz ausgeübt hat und mit den damit einhergehenden Verpflichtungen nicht vertraut ist, nicht zu beanstanden und wird auch vom Beschwerdeführer nicht ausdrücklich bestritten.
Der Beschwerdegegner scheint aber der Auffassung zu sein, dass der Beschwerdeführer seine fehlenden Geschäftsführungskenntnisse durch Beibringung einer Bestätigung eines Treuhandunternehmens einer fähigen Drittperson, die dem Beschwerdeführer ihre Unterstützung in administrativen Belangen zusichert, hätte ausgleichen können. Ob dies zulässig ist, wird nachfolgend zu prüfen sein.
2.
2.1 Gemäss Art. 81 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) und Art. 109 AVIG erlässt der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen zum Arbeitslosenversicherungsgesetz. Dieser Aufgabe ist er mit Erlass des am 31. August 1983 in Kraft getretenen AVIV nachgekommen.
2.2 Damit die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit von der Arbeitslosenversicherung durch die Entrichtung von Taggeldern gefördert wird, muss die antragstellende Person unter anderem ein Grobprojekt zur Aufnahme einer wirtschaftlich tragfähigen und dauerhaften selbstständigen Erwerbstätigkeit vorweisen können (Art. 71b Abs. 1 lit. d AVIG). Dieses gesetzlich normierte Ziel konkretisierte der Bundesrat in Art. 95b Abs. 1 lit. b AVIV dahingehend, dass die antragstellende Person angemessene Kenntnisse in der Geschäftsführung darzulegen hat eine
Bescheinigung vorlegen muss, dass solche Kenntnisse in einem entsprechenden Kurs erworben worden sind. Hintergrund von Art. 95b Abs. 1 lit. b AVIV kann im Lichte von Art. 71b Abs. 1 lit. d AVIG demnach nur die Auffassung sein, dass eine wirtschaftlich tragfähige und dauerhafte selbstständige Erwerbstätigkeit in jedem Fall angemessene Kenntnisse in der Geschäftsführung voraussetzt. Diese Kenntnisse haben nach dem Wortlaut von Art. 95b Abs. 1 lit. b AVIV bei der anspruchstellenden Person vorzuliegen. Für eine Substituierung fehlender Geschäftsführungskenntnisse durch Dritte, sei dies ein Treuhandunternehmen eine fähige Drittperson, lässt der Wortlaut von Art. 95b Abs. 1 lit. b AVIV keinen Raum.
2.3 Für die wortlautgetreue Auslegung von Art. 95b Abs. 1 lit. b AVIV spricht auch die Tatsache, dass ein allfälliges Outsourcing bestimmter administrativer Tätigkeiten (bspw. der Buchführung, der Abrechnung gegenüber den Sozialversicherungen der Erstellung der Steuererklärung) eine selbstständig erwerbstätige Person letztlich nicht von ihrer Verantwortlichkeit für die korrekte Erfüllung der gesetzlichen Pflichten entbindet. Eine selbstständig erwerbstätige Person muss daher zumindest in der Lage sein, die von einem Treuhänder einer fähigen Drittperson für sie vorgenommenen Handlungen in ihren Grundzügen nachzuvollziehen resp. zu überprüfen. Auch im Hinblick auf die Anforderungen, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit an die Persönlichkeit stellt, kann es nicht angehen, jeder versicherten Person mit ausreichenden Berufskenntnissen die Eignung für eine selbstständige Erwerbstätigkeit ohne Rücksichtnahme auf das Vorhandensein unternehmerischer Fähigkeiten zuzugestehen; dies widerspräche dem gesetzlich normierten Ziel, nur die Aufnahme einer wirtschaftlich tragfähigen und dauerhaften selbstständigen Erwerbstätigkeit finanziell zu unterstützen, ermöglichen gute Berufskenntnisse alleine doch noch nicht die dauerhafte Erzielung des Lebensunterhaltes durch eine selbstständige Erwerbstätigkeit.
2.4 Ersucht eine versicherte Person demnach um Taggelder zur Förderung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, dürfen solche Taggelder grundsätzlich nur dann gewährt werden, wenn die antragstellende Person selbst angemessene Kenntnisse in der Geschäftsführung aufweist resp. nachweisen kann.
3.
Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer im Lichte des verfassungsmässigen Grundsatzes von Treu und Glauben (Art. 9 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft [BV, SR 101]) in einem allfälligen Vertrauen auf die falsche Auskunft des Beschwerdegegners zu schützen und vom materiellen Recht abweichend zu behandeln ist (vgl. für viele: BGE 121 V 65 E. 2a). Im vorliegenden Fall forderte der Beschwerdegegner den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 20. August 2009 unter anderem auf, ein Grobkonzept und die Bestätigung eines Treuhandunternehmens einer fähigen Person zur Unterstützung seiner Geschäftsführungskenntnisse einzureichen. Im Grobkonzept, dass am darauffolgenden Tag beim Kantonalen Amt für Arbeit St. Gallen einging (act. G 3.1/B27), äussert sich der Beschwerdeführer dahingehend, das gesamte Inventar für den Coiffeursalon bereits erworben und mit dem Umbau passender Geschäftsräumlichkeiten begonnen zu haben. Nachdem der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Auskunftserteilung demnach sämtliche Dispositionen bereits getätigt hatte, fehlt es an einer mit der falschen Auskunft kausalen, nicht ohne Nachteil rückgängig zu machenden Disposition. Eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Beschwerdeführers kommt damit nicht in Frage.
4.
Da fehlende Geschäftsführungskenntnisse grundsätzlich nicht durch Kenntnisse eines Treuhandunternehmens einer fähigen Drittperson ersetzt werden können, der Beschwerdeführer nicht über ausreichende Kenntnisse in der Geschäftsführung verfügt und der verfassungsmässige Vertrauensschutz vorliegend nicht zum Tragen kommt, ist die Beschwerde abzuweisen. Offen gelassen werden kann in dieser Situation, ob das Gesuch aus weiteren Gründen abzuweisen wäre, wie der Beschwerdegegner in der Beschwerdeantwort geltend machte. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61
lit. a ATSG).
Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 53 GerG entschieden:
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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